Alfred Dießner
Mein ältester Bruder Alfred erlernte den Beruf eines Klempners. Nach seinen Wanderjahren zog er nach Charlottenburg, das damals noch nicht nach Berlin eingemeindet war.
Zu Alfreds Hochzeit 1905 fuhren Vater und ich nach Berlin.
Die Ehe mit Bertha blieb kinderlos, so dass sie das Waisenkind Lotte Hensel adoptierten.
Im Frühjahr 1911 wanderte die kleine Familie nach den USA aus. Ich kann nicht mehr sagen, wie sie das alles bewerkstelligten. Sie müssen sich jedenfalls jahrelang darauf vorbereitet und gespart haben. Alfred musste etwa ein Drittel seines Jahreseinkommens für die Schiffspassage aufwenden. Die Kleider wurden in ein zwei Koffer verstaut, die Papiere und Urkunden, die paar wenigen Fotos dazu und los ging’s nach Cuxhaven.
Die Schiffspassage kostete je 75,- $ für Alfred und Berta und 15,- $ für Lotti, das entsprach so etwa 380,- RM. Blieben noch 75$ für den Neuanfang übrig.
Am 12. März 1911 stachen sie mit der „President Lincoln“ der Hamburg-Amerika-Linie ab Cuxhaven in der 3. Klasse in See. Die Route führte sie über Southampton nach New York.
Am 24. März 1911 kamen sie dort an. Die Ankunftszeit und wie lange sie auf Ellis Island zubringen mussten, haben wir nie erfahren. Sie durften jedenfalls einreisen. Dann ging es mit der Fähre hinüber nach Long Island und sie betraten als willkommene Menschen den Boden der USA.
Das Gefühl muss überwältigend gewesen sein: „uns hält nicht’ s auf…“, „wir schaffen das…“, wir bauen uns eine gute, bessere Zukunft auf!“.
Ihre direkte Anlaufstelle war Bertas Onkel Otto Neumann in New York, der einige Jahre zuvor den großen Schritt gewagt hatte, und in Briefen an seine Nichte von der neuen Welt und ihren unbegrenzten Möglichkeiten berichtet und geschwärmt hatte.
Otto Neumann wohnte in der 85. Straße West. Wann kamen sie dort an? Abends? Musste Lotti gleich ins Bett? Was haben sie als erstes gemacht, was gegessen, getrunken? Was taten die Eheleute am ersten Abend? Einen kurzen Spaziergang um‘ s Viertel? Haben sie sich in dieser Nacht geliebt?
Gleich in den ersten Tagen, noch in New York haben sie sich um Arbeit für Alfred gekümmert.
Wie weit kommt man mit 75,- $?
Wann verdiente er sein erstes Geld?
Zum Fotografen müssen sie auch gleich in den ersten Tagen gegangen sein. Das Bild schickten sie mit ihrem ersten Brief aus den USA nach Särka zu den Eltern.
Wie war das eigentlich mit ihren Englischkenntnissen, wo haben sie die Sprache gelernt?
Wann haben sie sich das erste Mal über die Zukunft gestritten?
Schon bald muss Alfred in Bristol/Connecticut Arbeit in seinem Beruf gefunden haben. Er wurde in einer Marine-Werkstatt eingestellt, die maritime Ausrüstungen reparierte und instand setzte.
So kam es, dass aus Bristol regelmäßig Fotos im Laufe der nächsten Jahre nach Särka kamen. Sie posieren vorm Haus, vorm Auto, nicht ohne Stolz. Immer ist Lotti mit abgebildet, zu sehen wie sie heranwächst.
Die Adresse hat sich in all den Jahren nur einmal geändert, sie zogen aus Bristol nicht weg, wie später auch Lotti nicht.
1921 wurden sie dann amerikanische Staatsbürger. Als solche besuchten sie Deutschland im Herbst 1925. Wie lang ihr Aufenthalt war, weiß ich nicht mehr. Sie haben uns auch in Gera zu meinem 30. Geburtstag besucht, an dem Erika gerade 2 Jahre alt wurde. So lernten sie meine Dina und auch Erika kennen, Anneliese war noch nicht geboren.
Die Rückreise erfolgte am 29.11.1925 mit dem damals modernsten Schiff des Nord-Deutschen-Lloyd, der „Columbus“ von Bremen aus. Die Postkarte, die Alfred einen Tag vorher noch nach Särka an die Eltern schickte, hat meine Mutter die ganzen Jahre aufgehoben. So wie eigentlich alle Fotos und Briefe, die von drüben kamen. Sie hatte sie immer griffbereit in der kleinen Schachtel im Nachttisch. Leider sind nur die Fotos übriggeblieben.
Die Frage warum sie ausgewandert sind, kann ich nicht beantworten. Einen Vorteil hatte die Auswanderung der kleinen Familie jedenfalls beschert, Alfred musste nie zum Militär.
Obwohl er 1918 in den USA bereits gemustert wurde, blieb er vom Krieg verschont. Alfred war ja noch nicht eingebürgert. Im Zweiten Weltkrieg war er zum Glück schon zu alt.
1937 heiratete Lotti ihren Otto Pemrich, ihre beiden Kinder waren da schon 3 und 5 Jahre alt.
Alle 6 wohnten da in der Farmington Avenue 235 in Bristol, wie die Volkszählung von 1940 dokumentiert.
Der zunächst letzte Brief von Alfred an seine Mutter kam 1940 in Gera an. Nach dem Tod meines Vaters hatten wir sie 1939 nach Gera geholt. Von den deutschen Behörden war der Brief geöffnet worden.
Erst weit nach 1945 kam die Verbindung wieder zu Stande. Als unsere Mutter im Mai 1948 starb, habe ich einen Brief an die alte Adresse geschickt. Und tatsächlich kam bald Post aus Übersee. Leider konnten sie zur Trauerfeier unserer Mutter nicht kommen.
Nachdem unsere Zwillinge geboren waren, schickte Berta Zitronen, Nestlè Milchpulver usw. sowie Kleidung nach Deutschland. Dafür waren wir ihnen sehr dankbar. Das letzte Paket muss so um 1953 angekommen sein.
1958 starb Berta, Alfred 1966. Das gemeinsame Grab befindet sich auf dem städtischen Friedhof in Bristol.
Inzwischen schrieb sich Erika mit Lotti, es war ein loser Briefwechsel.
Ich glaube die Weihnachtskarte 1985 war der letzte Kontakt. Lotti war da 78 Jahre alt und wohnte bei ihren Kindern in Bristol.